Das Sozialgericht Berlin hat in seinem Urteil vom 22.02.2012 entschieden, dass die vermehrte Behandlung alter und chronisch kranker Patienten in einer allgemeinmedizinischen Vertragsarztpraxis (Hausarztpraxis) keine anzuerkennende Praxisbesonderheit darstellt, die einen Anspruch auf Erhöhung der praxisbezogenen Regelleistungsvolumina begründen kann.
(SG Berlin, Urteil vom 22.02.2012, – S 83 KA 213/11 -)
Gegenstand des Klageverfahrens vor dem SG Berlin war unter anderem die Höhe des dem Kläger für die Quartale III/2009 und IV/2009 zustehenden Regelleistungsvolumens sowie die Anerkennung von Praxisbesonderheiten.
Der Kläger ist Facharzt für Allgemeinmedizin in einer Einzelpraxis. Im Jahr 2009 beantragte der Kläger aufgrund der Darlegung von Praxisbesonderheiten die Erhöhung der praxisbezogenen Regelleistungsvolumina für die Quartale III/2009 und IV/2009. Die Geltendmachung von Praxisbesonderheiten begründete der Kläger im Wesentlichen mit einer vermehrten Betreuung von chronisch kranken und älteren Patienten sowie einer Diabetes-Spezialisierung seiner Praxis.
Das Sozialgericht Berlin hat in seinem Urteil vom 22.02.2012 entschieden, dass der Kläger keinen Anspruch auf Anerkennung von Praxisbesonderheiten hat.
Praxisbesonderheiten ergeben sich aus einem besonderen Versorgungsauftrag oder einer besonderen, für die Versorgung bedeutsamen fachlichen Spezialisierung, wenn zusätzlich eine aus den Praxisbesonderheiten resultierende Überschreitung des durchschnittlichen Fallwertes der Arztgruppe von mindestens 15 % vorliegt.
Der besondere Versorgungsbedarf setzt eine im Leistungsangebot der Praxis tatsächlich zum Ausdruck kommende Spezialisierung und eine von der Typik der Arztgruppe abweichende Praxisausrichtung voraus. Eine vom Durchschnitt abweichende Praxisausrichtung kann sich in einem besonders hohen Anteil der in einem speziellen Leistungsbereich abgerechneten Punkte im Verhältnis zur Gesamtpunktzahl zeigen.
Die Überschreitung des praxisindividuellen Regelleistungsvolumens muss ferner darauf beruhen, dass in besonderem Maße spezielle Leistungen (arztgruppenübergreifend erbrachte spezielle Leistungen, die eine besondere Qualifikation und eine besondere Praxisausstattung erfordern) erbracht werden. Die Praxisbesonderheiten müssen die Behandlungsweise des Arztes dauerhaft und nachhaltig prägen.
Nach der Rechtsauffassung des Sozialgerichts stellt das überdurchschnittlich hohe Alter der Patienten in einer hausärztlichen Vertragsarztpraxis keine anzuerkennende Praxisbesonderheit dar. Das überdurchschnittlich hohe Alter der Patienten findet nach Ansicht des Gerichts bereits über den Morbiditätsfaktor Alter abschließende Berücksichtigung.
Die Behandlung eines überdurchschnittlich hohen Anteils an chronisch kranken Patienten stellt ebenso keine Praxisbesonderheit dar. Die Behandlung chronisch kranker Patienten findet zum einen Berücksichtigung im Rahmen des Morbiditätsfaktors Alter und zum anderen gehört sie zum typischen Spektrum einer allgemeinmedizinischen hausärztlichen Praxis.
Die Behandlung chronisch kranker Patienten und die entsprechende Abrechnung des sog. Chronikerzuschlages gemäß Ziffer 03212 EBM gehört nach der Rechtsauffassung des SG Berlin zum typischen Spektrum einer allgemeinmedizinischen hausärztlichen Praxis und beruht nicht darauf, dass in besonderem Maße spezielle – von der Typik der Arztgruppe abweichende – Leistungen erbracht werden.
Zur Begründung einer versorgungsrelevanten Besonderheit genüg es nach der Ansicht des SG Berlin nicht, lediglich ein „Mehr“ an fachgruppentypischen Leistungen abzurechnen Die Behandlung von Patienten mit Diabetes mellitus, KHK, Asthma bronchiale und COPD gehört zum typischen Spektrum einer allgemeinmedizinischen Praxis.
Schließlich stellen nach der Auffassung des SG Berlin auch die umfassende Untersuchung und Behandlung der Patienten im Bereich der Diagnostik (Belastungs-EKG gemäß Ziffer 03321 EBM, Langzeit-EKG gemäß Ziffer 03322 EBM, Langzeitblutdruckmessung gemäß Ziffer 03324 EBM und spirographische Untersuchung gemäß Ziffer 03330 EBM) im Rahmen einer allgemeinmedizinischen Praxis keine Praxisbesonderheiten dar. Dies sei bereits aus der entsprechenden Verortung dieser Leistungen im EBM festzustellen. Eine „ganzheitliche“ Betreuung der Patienten in einer allgemeinmedizinischen Praxis sei angesichts des umfassenden hausärztlichen Versorgungsauftrages bereits nicht fachgruppenuntypisch.
Jörn Franz
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Medizinrecht